adesso Blog

Jans Mutter muss wegen ihrer Osteoporose regelmäßig Medikamente einnehmen. Doch es fällt ihr sehr schwer, sich an den Medikationsplan zu halten - die Einnahme ist einfach zu umständlich. Das weiß auch Jan und so wächst in ihm der Wunsch, seiner Mutter das Leben zu erleichtern - und er hat auch schon eine Idee! Als Manager in einem IT-Unternehmen berichtet er seinen Kolleginnen und Kollegen davon, die ebenfalls begeistert sind. Voller Tatendrang will Jan keine Zeit verstreichen lassen und lässt seine Idee sofort von seinem Team umsetzen. Doch das Ergebnis ist enttäuschend: Der Erfolg bleibt aus und die Kundenrezensionen zeigen Unzufriedenheit. Woran liegt das?

Viele Unternehmen entwickeln Produkte, die ihren Nutzerinnen und Nutzern keinen Nutzen bringen, und wenden dann zu viel Zeit und Geld auf, um sich mit immer neuen Versionen den Kundenbedürfnissen ein wenig anzunähern - oder sie scheitern ganz.

Meist entwickeln diese Unternehmen ihr Produkt nur aufgrund eigener Annahmen über die Zielgruppe. Erst wenn das Produkt bereits auf dem Markt ist, erhalten sie Kundenfeedback - erst dann erfahren sie, was ihren Nutzerinnen und Nutzer wirklich fehlt. Wäre es nicht sinnvoller, schon vor der Implementierung zu wissen, was die Nutzerinnen und Nutzer wirklich brauchen? Die Antwort lautet: Ja! Und hier kommt Product Discovery ins Spiel.

Die wichtige Phase der Product Discovery im Produktentwicklungsprozess kostet zwar zunächst etwas mehr Zeit und Geld, zahlt sich aber am Ende immer aus: Mit ihrer Hilfe könnt ihr ein erfolgreiches und sicheres Produkt entwickeln, euch einen Wettbewerbsvorteil verschaffen und langfristig Kosten sparen.

Bei Software als Medizinprodukt, wie zum Beispiel einer DiGA, ist die Phase der Produktfindung besonders wichtig, um ein Produkt zu entwickeln, das seinen Zweck erfüllt und den Patientinnen und Patienten hilft, ohne sie zu gefährden.

In meinem Blog-Beitrag zeige ich, was Product Discovery ist und wie man damit Produkte entwickeln kann, die den Menschen einen echten Mehrwert bieten.

Worum geht es bei der Product Discovery?

Die Product Discovery zielt darauf ab, die richtigen Produktideen zu entwickeln, die ihren Usern einen Nutzen bringen und eine gute Usability aufweisen. Durch Product Discovery erhaltet ihr:

  • ein Verständnis über eure Zielgruppe und deren (Nutzungs-)Kontext,
  • Einblicke in die tatsächlichen Probleme und Bedürfnisse eurer Zielgruppe,
  • Lösungen für die Probleme der Zielgruppe,
  • Sicherheit, ob eure Produktidee auf dem Markt Anwendung finden und bestehen wird und
  • Klarheit darüber, ob eure Produktidee ein Medizinprodukt ist.
Wie kann man das erreichen?

Insbesondere bei Medizinprodukten sollte der Ansatz des Human Centered Designs, bei dem die Nutzerinnen und Nutzern von Anfang an in die Entwicklung einbezogen werden, verfolgt werden, da er dazu beiträgt, die Anforderungen der IEC 62366-1 zu erfüllen. Die Orientierung an der Norm dient wiederum als Konformitätsnachweis für die Anforderungen der Medical Device Regulation (MDR) an die Gebrauchstauglichkeit von Medizinprodukten; damit wird die Überprüfung des Produkts auf vorhandene Risiken sowie seine sichere Gestaltung für seine Nutzer:innen gewährleistet. Alternativ kann die ähnliche Methode des Design Thinking angewendet werden, bei der ebenfalls die Bedürfnisse der Nutzerinnen und Nutzer im Mittelpunkt der Produktentwicklung stehen.

Das konkrete Vorgehen lässt sich in drei Bereiche unterteilen: User Research, Ideation & UI Design und Evaluation. Auf diese wird im Folgenden näher eingegangen.

Wie schafft man es, die Zielgruppe und deren Probleme zu verstehen?

User Research zielt darauf ab, das Problem und den Kontext der Zielgruppe zu verstehen. Dazu können Sekundärliteratur, Marktbeobachtungen oder Wettbewerbsanalysen herangezogen werden - besonders aussagekräftig ist jedoch der Dialog mit der Zielgruppe. Gerade im Gesundheitsbereich können sich Außenstehende oft kaum vorstellen, wie es den Betroffenen geht - selbst Ärztinnen und Ärzte können dies nur erahnen. Einen wirklichen Einblick haben nur die Betroffenen selbst. Deshalb ist es besonders wichtig, neben Ärztinnen und Ärzten auch mit Betroffenen zu sprechen. Darüber hinaus sind Angehörige oft in die Betreuung der Patienten involviert und können aufschlussreiche Einblicke geben - oder haben selbst Unterstützungsbedarf, für den Lösungen entwickelt werden können. Generell ist darauf zu achten, dass eine ausreichende Anzahl von Personen einbezogen wird und nicht nur eine Perspektive fokussiert wird.

Für die primäre Nutzerforschung im Dialog mit der Zielgruppe können verschiedene qualitative Methoden eingesetzt werden. Dazu zählen beispielsweise Einzelinterviews mit Nutzerinnen, Nutzern oder Expertinnen und Experten, Fokusgruppen, Umfragen, Beobachtungen oder Shadowing. Dabei müssen Protokolle erstellt werden.

Anhand der Protokolle kann dann die Auswertung der qualitativen Erhebung erfolgen, beispielsweise in Form einer qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring. Schließlich müssen die Bedürfnisse herausgearbeitet werden, aus denen später Nutzungsanforderungen abgeleitet werden können. Zum Verständnis von Kontext und Zielgruppe kann es hilfreich sein, auf Basis der Ergebnisse der User Research Personas oder User Journey Maps beziehungsweise Patient Journey Maps zu erstellen.

Wie kann man Produktideen entwickeln und veranschaulichen?

Im nächsten Bereich der Product Discovery, Ideation & UI-Design, werden in Ideation-Workshops Produktideen entwickelt. Dabei werden zunächst in einem Brainstorming-Prozess möglichst viele Lösungsvorschläge für die verschiedenen Nutzerprobleme gesammelt, wobei Quantität vor Qualität geht. Erst in einem zweiten Schritt findet eine Bewertung der Ideen statt, die beispielsweise mit Hilfe der How-Wow-Now-Matrix erfolgen kann.

Nach dem Ideenworkshop wird die Produktidee weiter ausgearbeitet. Für digitale (Gesundheits-)Anwendungen werden Informationsarchitekturen, Navigationsstrukturen und Feature Maps erstellt, um einen Überblick über die Funktionen und deren Sortierung zu erhalten. User Flows und Nutzungsszenarien sowie Low-Fidelity-Prototypen wie Wireframes veranschaulichen, wie die Produktidee genutzt werden soll.

Darauf folgt (bei digitalen Produkten) das Design des User Interface (UI), also der Benutzeroberfläche. Mit Hilfe von Moodboards und unter Berücksichtigung von Barrierefreiheit und Sicherheit wird die Benutzeroberfläche inklusive der Anordnung der einzelnen UI-Elemente gestaltet. Umgesetzt wird das Design in einem Clickdummy - einem interaktiven Prototyp, der wie das spätere Produkt aussieht, aber noch keine Funktionalität besitzt.

Wie kann man seine Produktideen validieren?

Die Evaluation ist der letzte Bereich der Product Discovery und kann in Usability-Evaluation und technische Evaluation unterteilt werden. In der Usability-Evaluation werden die erstellten Clickdummies von potentiellen Nutzerinnen und Nutzern oder Usability-Expertinnen und -Experten getestet. Dies kann beispielsweise in Form von Usability-Tests, formativen Usability-Evaluationen, Cognitive Walkthroughs, heuristischen Evaluationen oder Expertinnen oder Experten-Reviews erfolgen. Die Ergebnisse der einzelnen Testszenarien sind auszuwerten und der Prototyp gegebenenfalls anzupassen. Product Discovery ist somit ein iterativer Prozess, da durch die Evaluation das Verständnis für die Zielgruppe geschärft werden kann und Probleme aufgedeckt werden, für die neue Lösungen entwickelt werden müssen.

Da bei Medizinprodukten häufig Risiken aus der Anwendung resultieren können, liegt ein besonderer Fokus der Usability-Evaluation auf der Minimierung dieser Risiken: Es gilt zu verhindern, dass Fehlbedienungen (beispielsweise falsch eingegebene Messwerte, die zu fehlerhaften Berechnungen zum Beispiel der Medikamentendosierung führen) schwerwiegende Folgen für die Anwenderinnen und Anwender haben. Zu diesem Zweck werden in der Regel vor der Durchführung der Usability-Evaluation Nutzungsszenarien erstellt, in denen definiert wird, welche dieser Szenarien potenzielle Risiken für die Nutzerinnen und Nutzer bergen. Falls es risikorelevante Merkmale gibt, müssen diese zwangsläufig in der Evaluation berücksichtigt werden. Des Weiteren wird analysiert, ob sich aus den Szenarien potenzielle Fehler ergeben. Diese müssen dann durch geeignete risikomindernde Maßnahmen reduziert werden.

Im letzten Schritt werden High-Fidelity-Prototypen für die technische Evaluation erstellt: Neben den technischen Projektrisiken werden diese als Proof of Concept evaluiert.

Was muss man während der Product Discovery beachten?

Die Ideenentwicklung sollte in einem interdisziplinären Team erfolgen, um unterschiedliche Sichtweisen zu vereinen. So fokussieren beispielsweise Entwicklerinnen und Entwickler auf die technische Machbarkeit, während Mitarbeitende mit medizinischem Hintergrund den medizinischen Nutzen in den Vordergrund stellen. Wichtig ist, dass die Ideengenerierung auf Basis der durch User Research identifizierten Probleme erfolgt. Dazu ist es notwendig, dass die Ergebnisse dem gesamten Team bekannt und verständlich sind.

Darüber hinaus ist es wichtig, sich nicht von Annahmen beeinflussen zu lassen und an Ideen festzuhalten, die nachweislich keinen Nutzen haben. Auch wenn die Ungewissheit oft schwer zu ertragen ist, muss man den Prozess ergebnisoffen angehen, um ein nützliches Produkt zu erhalten.


Die Phasen der Produktentwicklung auf einen Blick

Fazit

Mit Product Discovery werden erfolgreiche Produkte für eine bestimmte Zielgruppe entwickelt, die ihr Nutzenversprechen halten und die Bedürfnisse der Nutzerinnen und Nutzer erfüllen. Solche marktreifen Produkte können mit Product Discovery schneller und kostengünstiger erreicht werden als mit herkömmlichen Produktentwicklungsansätzen, wie die folgende Abbildung zeigt.

In der frühen Discovery-Phase des Produktentwicklungsprozesses werden mit Hilfe von Prototypen in Evaluationen mit realen Nutzerinnen und Nutzern schnell verwertbare Ergebnisse erzielt, auf deren Basis einfache und kostengünstige Änderungen vorgenommen werden können. Sollte sich herausstellen, dass die Produktvision nicht wirtschaftlich ist, kann das Projekt nach der Product Discovery überarbeitet oder sogar abgebrochen werden, wodurch weitere Investitionen in ein aussichtsloses Produkt vermieden werden. Darüber hinaus trägt die Product Discovery für Medizinprodukte dazu bei, den regulatorischen Aufwand zu reduzieren. Anforderungen von Anfang an zu erfüllen, und die Ergebnisse der Nutzerforschung und Evaluation können später für den Nutzennachweis wiederverwendet werden.

Auch Jan sollte also beim nächsten Mal ausreichend Zeit für eine Product Discovery einplanen: Statt direkt mit der Umsetzung auf Basis seiner eigenen Erfahrungen und Annahmen zu beginnen, sollte er methodisch vorgehen und weitere Patientinnen und Patienten und Angehörige einbeziehen. So wird sein neues Produkt ein Erfolg am Markt und hilft nicht nur seiner Mutter, sondern auch vielen weiteren Osteoporose-Patientinnen und Patienten.

Wenn auch Sie digitale Produkte entwickeln möchten, die beispielsweise Patientinnen, Patienten und Angehörige unterstützen und Ärztinnen und Ärzte entlasten sollen, stehen wir euch gerne zur Seite und begleiten euch durch die Product-Discovery-Phase und darüber hinaus.

Bild Emily Hossfeld

Autor Emily Hossfeld

Emily Hossfeld arbeitet als Associate Requirements Engineer im Bereich Personal Health. Sie hat Assistive Technologien" (B.Eng.) und Technical Entrepreneurship and Innovation" (M.Sc.) studiert. Ihr Schwerpunkt liegt neben dem Anforderungsmanagement in der menschzentrierten Produktentwicklung: In verschiedenen Projekten durchlief sie die Product Discovery Phase an der Schnittstelle zwischen Technik und Gesundheit und gestaltete Apps, um Patientinnen und Patienten sowie deren Angehörige zu unterstützen.

Diese Seite speichern. Diese Seite entfernen.