6. August 2024 von Anastasiia Zhuravleva und Holger von Mallek
Neue Anforderungen und erweiterte Bedürfnisse an Apps und Wearables in der Pflege
Der demografische Wandel stellt das deutsche Pflegesystem vor vielfältige Herausforderungen. Während Politik und Verbände nach nachhaltigen Finanzierungsmodellen suchen und der technologische Fortschritt neue Dienstleistungs- und Versorgungskonzepte ermöglicht, bleibt die digitale Kundenzentrierung schwierig. Ziel ist es, mit Apps und Wearables die Selbstständigkeit und Lebensqualität der nächsten Generation von Pflegebedürftigen digital zu verbessern und gleichzeitig Angehörige zu entlasten.
Pflegebedürftige und deren Angehörige werden unzureichend digital mitgenommen
Pflegebedürftige Menschen und ihre Angehörigen sind digital gut versorgt. Die Herausforderungen sind vielfältig: Zeitmangel, körperliche und emotionale Belastungen, finanzielle Sorgen und bürokratische Hürden. Laut aerzteblatt.de herrscht Belastung bei Angehörigen und das Gefühl, alleingelassen zu werden.
Studien zeigen, dass digitale Unterstützung für Angehörige von Pflegebedürftigen derzeit vor allem Informationsdefizite beheben soll, zum Beispiel durch Artikel oder To-do-Listen.
Entscheidungen zur Pflege werden heute noch selten digital getroffen. Angehörige nutzen zwar häufig das Internet, um sich über Pflegeangebote zu informieren, wobei die Websites etablierter Anbieter wie des Deutschen Roten Kreuzes, der Johanniter oder der Malteser eine wichtige Rolle spielen. Vertiefende Informationen und konkrete Entscheidungen, wie zum Beispiel die Anschaffung eines Hausnotrufsystems, werden jedoch häufig im persönlichen Gespräch mit Pflegekräften getroffen, die als vertrauenswürdige Berater und Beraterinnen fungieren.
Zielgruppe und Möglichkeiten verändern sich
Die nächste Generation der Pflegebedürftigen und deren Angehörigen
Die Anzahl der Pflegebedürftigen liegt in Deutschland bei 4,96 Millionen Menschen. Prognosen zufolge wird diese Zahl bis 2035 um 27 Prozent steigen und laut Pflegevorausberechnung sind 1,8 Millionen mehr Pflegebedürftige bis zum Jahr 2055 zu erwarten.
Der Alltag wird immer digitaler und vor allem mobiler. In Deutschland liegt die Nutzung von Smartphones bei 47 Prozent, weltweit bereits bei 60 Prozent und somit vor dem Desktop-PC (37 Prozent weltweit). Das Tablet ist mit zwei Prozent weit abgeschlagen. Laut einer Bitkom-Studie besitzen 84 Prozent der Deutschen ab 16 Jahren ein Smartphone. Das entspricht rund 58 Millionen Menschen. Es ist davon auszugehen, dass dieser Anteil im Jahr 2024 noch weiter steigt und es immer mehr zum festen Bestandteil des Alltags wird.
Lösungen wie Pflege-Apps haben das Potenzial, die Versorgung zu verbessern. Der TI-Atlas der Gematik wird da sehr deutlich: Hoffnungen bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens – 90 Prozent möchten ihre Behandlung aktiv mitbestimmen.
Eine große Herausforderung stellt die technische Hürde für pflegebedürftige Menschen dar. Aufgrund von Erkrankungen wie Demenz oder Alzheimer ist es oft schwierig, diese Zielgruppe direkt mit digitalen Lösungen zu erreichen. Automatisierte Wearables können hier jedoch eine effektive Unterstützung bieten. Anders sieht es bei den Angehörigen aus: Sie sind mit der Technik aufgewachsen. Sie sind diejenigen, die aktiv nach Informationen suchen und Entscheidungen treffen. Auch sie erwarten Wearable- und App-Lösungen für die Pflegebedürftigen.
Gesundheitswesen muss Kundennutzen und Mitmachmodelle im Fokus haben
Gesundheits-Apps entwickeln sich ständig weiter, um den Kundennutzen zu erhöhen und das Kundenerlebnis zu verbessern. Service-Apps für einzelne Dienstleistungen bieten Kundinnen und Kunden zudem einen komfortablen Zugang zu Informationen und Services. Aber auch digitale Produktinnovationen spielen eine wichtige Rolle. Verhaltensbasierte und modulare Produkte mit individueller Ausrichtung erhöhen den Kundennutzen und die Kundenbindung.
Um diese Ziele zu erreichen, ist eine konsequente Kundenzentrierung unabdingbar. Indem die individuellen Bedürfnisse und Wünsche der Kundinnen und Kunden in den Mittelpunkt gestellt werden, können passgenaue Lösungen entwickelt und angeboten werden. Partizipationsmodelle, bei denen die Kundinnen und Kunden aktiv in die Gestaltung von Produkten und Dienstleistungen eingebunden werden, sowie Präventionsangebote, die dazu beitragen, die Gesundheit der Kundinnen und Kunden zu erhalten und zu fördern, sind weitere wichtige Bausteine für eine erfolgreiche Kundenbindung im Gesundheitswesen.
Der Gesetzgeber setzt digitale Rahmenbedingungen
Im Juni 2021 hat der Gesetzgeber neben den finanziellen Aspekten auch wichtige Rahmenbedingungen im Bereich der digitalen Pflegeanwendungen (DiPA) geschaffen. Pflegebedürftige können nun Zuschüsse für digitale Hilfsmittel erhalten. Zudem wurde mit dem Gesetz zur Digitalisierung und Modernisierung der Pflege (DVPMG) ein Rahmen geschaffen, der die Digitalisierung in der Pflege vorantreiben soll.
DiPAs sollen die Qualität der Pflege verbessern, indem sie Pflegebedürftige dabei unterstützen, ihren Gesundheitszustand selbstbestimmt zu managen und pflegende Angehörige zu entlasten. Die Ziele: Digitale Geräte sollen den Alltag erleichtern, die digitale Vernetzung im Gesundheitswesen soll gestärkt werden, um eine bessere Kommunikation und Zusammenarbeit aller Beteiligten zu ermöglichen.
Finanzielle Leistungen für DiPas führen jedoch nicht zu konkreten Veränderungen, weshalb weitere Maßnahmen ergriffen wurden. Diese unterstreichen den Willen des Gesetzgebers zu einer nachhaltigen Verbesserung. So müssen DiPAs strenge Qualitätsstandards erfüllen, um überhaupt für eine Kostenübernahme in Frage zu kommen. Datenschutz und Datensicherheit sind zu beachten, da es sich auch um sensible Gesundheitsdaten handelt. Pflegebedürftige und ihre Angehörigen sollen zudem transparent über die verfügbaren DiPAs informiert werden, damit sie für sich passende Lösungen auswählen können. Zu diesem Zweck können für zugelassene DiPAs bis zu 50 Euro pro Monat erstattet werden. Eine Liste des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) sichert nach der Zulassung die Qualität und den Nutzen dieser Anwendungen.
Nutzerinnen und Nutzer wollen Sicherheit, Finanzierung und Zeit
Es gibt unterschiedliche Apps am Markt, die Pflegebedürftige sowie pflegende und betreuende Angehörige im Alltag unterstützen können. Digitale Apps für Pflege und Gesundheit legen den Fokus auf Sicherheit und Wohlbefinden. Sie bieten Kommunikationsfunktionen für den direkten Kontakt zu Angehörigen oder Pflegekräften und könnten das klassische Hausnotrufsystem modernisieren, indem sie im Notfall automatisch Hilfe alarmieren.
Das DiPA-Rahmenwerk wurde erfolgreich etabliert, jedoch besteht weiterhin Optimierungsbedarf hinsichtlich der Ausrichtung auf die Zielgruppe in Bezug auf Sicherheit, Finanzierung und Organisation.
- Sicherheit: Sie ist für uns alle ein zentrales Anliegen, insbesondere für pflegebedürftige Menschen, die selbstbestimmt in den eigenen vier Wänden leben möchten, statt in ein Pflegeheim zu ziehen. Gleichzeitig wollen sie sicher sein, dass sie im Bedarfsfall schnell Hilfe bekommen. Auch pflegende Angehörige wollen ihre Angehörigen gut versorgt wissen.
- Finanzierung: Wichtig ist auch eine transparente Finanzierung. Pflegebedürftige und ihre Angehörigen sind oft unsicher, welche finanziellen Leistungen ihnen zustehen. Erschwerend kommt hinzu, dass die Informationen im Internet oft fragmentiert, unvollständig oder veraltet sind. Eine App könnte hier als Informationsaggregator fungieren.
- Zeit: Gerade für pflegende Angehörige ist Zeit ein knappes Gut. Statt stundenlang nach Informationen zu suchen, möchten sie ihre Zeit lieber mit der Familie oder Freunden verbringen. Eine App könnte hier unterstützen, indem sie die direkte Kommunikation mit der Pflegeversicherung ermöglicht und digitale Anträge zulässt.
Herausforderungen bei der Umsetzung
Ein schwieriges Beispiel ist das Hausnotrufsystem. Derzeit gibt es drei verschiedene Arten auf dem Markt. Der traditionelle stationäre Hausnotruf, der mobile Notruf für unterwegs und die Notrufuhr. Gerade bei Sicherheitsanwendungen wie Notrufsystemen gibt es oft Hürden bei der Darstellung.
Haptik vs. digital
Traditionell wird ein Notruf als ein bestimmtes stationäres Gerät mit einem Knopf dargestellt. Die Haptik stellt hier eine Herausforderung bei der Einführung einer neuen digitalen, Smartphone-basierten Lösung dar und erschwert die Umsetzung. Beispielsweise muss der Auslösetaster mindestens 150 mm² groß sein.
Schwierige Zulassung
Die Zulassungsbedingungen für Hausnotrufsysteme sind sehr komplex. Geräte mit einer Basisstation und einer physischen Taste eignen sich gut für ältere Generationen (ab 70 Jahren) oder Menschen mit geistigen Erkrankungen wie Demenz oder Alzheimer. Jüngere Generationen sind hingegen technikaffiner. Die technische Umsetzung stellt eine große Herausforderung dar, die in zukünftigen Dialogen mit Behörden und zum Beispiel dem Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherung gelöst werden muss. Definitionen und Zulassungskriterien müssen zeitgemäß angepasst werden, damit die nächste Generation ihr Smartphone oder Wearables nutzen kann.
Ein weiteres Problem tritt auf, wenn die App als Digitale Pflegeanwendung (DiPA) beantragt wird. Laut des Artikels „DiPA: Hohe Hürden erschweren den Start“ besteht eine große Hürde in der fehlenden Validierung von Messinstrumenten in der Pflege. Während in der Medizin bereits validierte Fragebögen existieren, die nachweisen können, dass Patientinnen und Patienten durch eine App weniger Schmerzen haben, müssen solche Instrumente in der Pflege erst entwickelt und validiert werden. Erst dann kann in einer weiteren Studie der Nutzen der App nachgewiesen werden. Die Kosten und der Aufwand für eine solche Studie sind erheblich – etwa 100.000 bis 150.000 Euro sowie ein Jahr Arbeitszeit.
Wohin sollte es gehen
Die sich verändernden Bedürfnisse der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen müssen berücksichtigt werden, um bedarfsorientierte Lösungsansätze für Apps und Wearables zu entwickeln. Eine konsequente Orientierung an den Kundenbedürfnissen ist dabei entscheidend, um individualisierte Versorgungslösungen zu gestalten.
Regulatorische Hürden und fehlende Validierung von Messinstrumenten behindern jedoch die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle und erschweren deren Umsetzung. Eine bedarfsgerechte Ausgestaltung dieser Rahmenbedingungen für die wachsende Zielgruppe könnte die Finanzierung innovativer Lösungen erleichtern und den Markt für fortschrittliche und profitable Angebote öffnen.