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Grüner Wasserstoff gilt als Schlüsselelement der Energiewende in Deutschland. Viele große Energieverbraucher sollen künftig mit grünem Wasserstoff betrieben werden und damit die klimaschädlichen fossilen Energieträger Öl, Gas und Kohle ersetzen.

Deutschland hat sich dafür einen Plan gegeben, die "Nationale Wasserstoffstrategie". Sie legt fest, wie viel Wasserstoff hierzulande produziert werden soll und wie die Infrastruktur aussehen soll. Da es unmöglich erscheint, den gesamten Wasserstoffbedarf in Deutschland selbst zu erzeugen, rechnet die Bundesregierung damit, dass bis zum Jahr 2030 50 bis 70 Prozent des Wasserstoffs importiert werden müssen. Soweit der Plan.

Doch inzwischen wachsen bei vielen Projekten die Fragezeichen, wann der klimaneutrale Energieträger kommt. Die Meldungen über deutlich verschobene oder gestrichene Projekte häufen sich. So hat Dänemark kürzlich angekündigt, den Start einer Wasserstoff-Pipeline nach Deutschland von 2028 auf 2031 zu verschieben. Mehrere Aktivitäten seien "umfangreicher und zeitaufwändiger als ursprünglich angenommen". Auch bei einem von Norwegen geplanten Projekt gab es Ende September eine Kehrtwende: Die Wasserstoff-Pipeline nach Deutschland, die als Übergangslösung sogenannten blauen Wasserstoff transportieren sollte, wird nicht gebaut, da die Nachfrage nach blauem Wasserstoff nicht geklärt sei.

Andererseits gibt es auch viele positive Signale. So wurde im September der Auftrag für einen 100-MW-Elektrolyseur in Hamburg vergeben.

Und Mitte Oktober stellte Wirtschaftsminister Robert Habeck mit einiger Verspätung die Pläne für das deutsche Wasserstoff-Kernnetz vor. Vorgesehen sind insgesamt rund 9.000 Kilometer Leitungen. Für 60 Prozent davon sollen bestehende Gasleitungen genutzt und auf Wasserstoff umgerüstet werden, der Rest muss neu gebaut werden. Das Netz soll auch 13 Knotenpunkte an den deutschen Grenzen für den Import umfassen und bis 2032 fertiggestellt sein. Die Kosten werden auf knapp 19 Milliarden Euro geschätzt.

Nach wie vor besteht jedoch eine große Unsicherheit, die vor allem in den noch fehlenden regulatorischen Vorgaben und der unsicheren Verfügbarkeit begründet zu sein scheint.

Ungeachtet dieser Entwicklungen besteht ein breiter Konsens, dass große Mengen an grünem Wasserstoff für Backup-Kraftwerke in sonnen- und windarmen Zeiten, für viele industrielle Prozesse, die nach heutigem Stand nicht sinnvoll elektrifiziert werden können, sowie für den Schiffs- und Flugverkehr (ggf. mit Wasserstoffderivaten) benötigt werden.

Empfohlenes Vorgehen für heutige Gasnetzbetreiber

Wasserstoff hat andere physikalische und chemische Eigenschaften als Erdgas. Er ist leichter, diffusionsfähiger und brennbarer. Außerdem neigt Wasserstoff dazu, Materialien wie Stahl oder Gusseisen spröde zu machen, insbesondere bei hohem Druck. Dieser Effekt kann zu Rissen oder Brüchen in den Leitungen führen. Die Gasnetzbetreiber müssen daher zunächst sicherstellen, dass die in ihrem Netz verwendeten Materialien den Anforderungen des Wasserstofftransports genügen.

Gasnetzbetreiber, die auch ein langfristiges Interesse am Betrieb ihrer Infrastruktur haben, sollten zunächst folgende Punkte prüfen/abklären:

  • a) Liegt das geplante Wasserstoffkernnetz in der Nähe, so dass mittel- bis langfristig überhaupt leitungsgebundener Wasserstoff verfügbar sein wird?
  • b) Gibt es eigene Netzkundinnen und oder Kundengruppen, die perspektivisch mit hoher Wahrscheinlichkeit Wasserstoff in größerem Umfang benötigen, insbesondere weil es langfristig keine wirtschaftlich sinnvollere Alternative gibt?

Sind beide Fragen mit „ja“ beantwortet, ist eine mittel- und langfristige Strategie zu entwickeln, die möglichst folgende Punkte adressiert:

  • a) Zielsetzung: Klare Ziele für den Wasserstoffanteil und den Zeitrahmen für die Transformation sollten festgelegt werden.
  • b) Roadmap: Eine Roadmap sollte die schrittweise Umstellung von Erdgas auf Wasserstoff definieren.
  • c) Marktentwicklung berücksichtigen: Gasnetzbetreiber sollten sich an nationalen und europäischen Wasserstoffstrategien orientieren und dies über Szenarien abbilden.

Anschließend muss die Strategie „operationalisiert“ werden: Das Gasnetz muss, wie bereits erwähnt, auf Wasserstofftauglichkeit geprüft werden. Dazu ist eine technische Bewertung der bestehenden Infrastruktur hinsichtlich Materialbeschaffenheit, Dichtungen und Armaturen notwendig, um mögliche Schwachstellen aufzudecken.

Dabei ist ein moderates Vorgehen sinnvoll, da mittel- bis langfristig nicht damit zu rechnen ist, dass das gesamte heutige Gasnetz auf Wasserstoffbetrieb umgestellt wird.

Geprüft werden sollten vorrangig:

  • 1) Hochdruckleitungen: HD-Leitungen sind kritischer zu betrachten als MD- oder ND-Leitungen, da sie den größten Teil des Wasserstoffs im Netz transportieren werden. Der Druck des Wasserstoffs kann die Materialbeanspruchung erhöhen und das Risiko von Leckagen oder Ausfällen ist in diesen Netzbereichen höher. Außerdem ist es wahrscheinlich, dass die voraussichtlichen Kunden, die Wasserstoff benötigen, bereits an das Hochdrucknetz angeschlossen sind.
  • 2) Ältere Netzabschnitte und Abschnitte mit hohem Korrosionsrisiko: Ältere Leitungen, die noch aus Materialien wie Gusseisen oder minderwertigen Stählen bestehen, sollten vorrangig geprüft werden. Diese Materialien sind besonders anfällig für Wasserstoffversprödung und Leckagen. Auch Bereiche des Netzes, die bereits bekannt für Korrosionsprobleme sind oder in denen kathodischer Korrosionsschutz eingesetzt wird, sollten vorrangig auf Materialschwächen untersucht werden. Metallische Leitungen sind besonders anfällig, wenn sie älter sind und in Umgebungen mit hoher Feuchtigkeit oder salzhaltigem Boden verlegt wurden.
  • 3) Verdichterstationen und Regelanlagen: Bei Verdichter-, Regel- und Druckminderstationen (GDR-/GDRM-Anlagen) kommen viele mechanische Bauteile und Dichtungen zum Einsatz, die anfällig für Leckagen oder Materialversagen sein können.
  • 4) Abschnitte mit vielen Verbindungen und Übergangsstellen: Übergangsstellen wie Verbindungen, Flansche und Ventile stellen oft Schwachstellen in der Dichtheit eines Gasnetzes dar. Da Wasserstoff kleinere Moleküle als Erdgas hat, kann es leichter durch diese Verbindungen entweichen.

Die Untersuchung des gesamten Gasnetzes ist also nicht zwingend erforderlich, wenn ein solches risikobasiertes und priorisiertes Vorgehen angewendet wird.

Vorgehen für eine Wasserstofftauglichkeitsuntersuchung

Um die Tauglichkeit von Netzkomponenten zu prüfen, benötigt es Informationen zu Material, Funktion und dem Zustand dieser Assets.

Diese Daten sind bei Gasnetzbetreibern meist vorhanden, befinden sich jedoch häufig in unterschiedlichen Systemen und Formaten. Neben den IT-Systemen besitzen viele Gasnetzbetreiber auch analoge Archive mit relevanten Dokumenten wie etwa Materialbeschaffung, Instandhaltungsberichte, Hausanschlusskarten, Betriebs- und Abnahmeprotokollen.

Der erste Schritt hin zur Wasserstofftauglichkeitsuntersuchung für einen Gasnetzbetreiber ist somit die Bereitstellung dieser Daten über System- und Formatgrenzen hinweg.

Gemeinsam mit der Open Grid Europe GmbH (OGE) hat adesso eine Methodik und Werkzeuge zur automatisierten Extraktion und Aufbereitung der benötigten Daten aus IT-Systemen und Dokumentenarchiven für die Wasserstofftauglichkeitsuntersuchung von Gasnetzen entwickelt.

Zunächst kann ein sogenannter Reifegradcheck einen ersten objektiven Hinweis auf die Qualität und Quantität der vorhandenen Daten geben. Durch den Einsatz von KI und erprobten OCR-Tools kann dann der Aufwand reduziert und die Qualität der Datenbereitstellung gegenüber bisherigen Lösungen deutlich verbessert werden. Die von adesso implementierte Lösung kombiniert dazu die Vorteile beider Technologien.

Durch die automatisierte Datenerfassung können je nach Umfang der Dokumente bis zu mehreren Personenjahren im Vergleich zur manuellen Datenerfassung eingespart werden.

Unser Vorgehen umfasst im ersten Schritt die Clusterung und Sortierung der digitalisierten Dokumente. Nur als relevant identifizierte Cluster werden durch die KI-gestützte Erfassung bearbeitet und deren Daten in einem strukturierten Format erfasst, dies spart Kosten und reduziert die Bearbeitungszeit.


Projektablauf in a Nutshell

Mit den gesammelten Daten können Eignungsprüfungen für einzelne Komponenten und Leitungsabschnitte durchgeführt werden. Hierfür steht unser Projektpartner OGE zur Verfügung. Es kann aber auch auf Datenbanken wie zum Beispiel verifHy des DVGW zurückgegriffen werden.

Wie KI die Wasserstofftauglichkeitsuntersuchung unterstützt

Neben diesem Anwendungsfall der automatisierten Datenerfassung kann KI den Gasnetzbetreiber auf verschiedenen Ebenen technisch unterstützen. Im Folgenden werden einige Einsatzmöglichkeiten vorgestellt, an denen adesso arbeitet:

Datenformate vereinheitlichen

Daten liegen oft in verschiedenen Formaten und Systemen vor (Excel-Tabellen, Datenbanken, PDF-Berichte). Eine KI kann die Informationen in ein einheitliches Format umwandeln, das leicht zugänglich und analysierbar ist.

Identifikation von fehlenden oder unvollständigen Daten

Durch Analyse der bestehenden Datensätze kann eine KI Lücken identifizieren, bespielsweise fehlende Materialinformationen, unvollständige historische Wartungsberichte oder inkonsistente Angaben zu Rohrleitungsabschnitten. Sie können automatisch Berichte erstellt werden, die gezielt diese Lücken markieren.

Prognosen für Datenlücken erstellen

Durch maschinelles Lernen können die Lücken in diesen unvollständig erfassten Netzabschnitten geschlossen werden. KI kann mit Hilfe von maschinellem Lernen und statistischen Modellen Vorhersagen über die fehlenden Informationen treffen. Beispielsweise kann sie aus vergleichbaren Netzabschnitten, Material- und Beschaffungsnachweisen sowie Baudokumentationen Rückschlüsse und Wahrscheinlichkeiten über die Materialzusammensetzung oder den Zustand von Leitungen ziehen.

Intelligente Risiko- und Priorisierungsempfehlungen

Mit Hilfe einer KI ist es möglich, aus den gesammelten Daten wie Materialinformationen, Alter der Leitungen, Wartungshistorie und Umgebungsbedingungen eine Risikoanalyse zu erstellen. Sie hilft Netzbetreibern, gefährdete Bereiche im Netz zu identifizieren.

Auf Basis dieser Informationen und Auswertungen können Netzbetreiber eine Priorisierung für die Freilegung von Leitungsabschnitten planen.

Ausblick: angrenzende Anwendungsfälle / Synergien

Die aus der Wasserstofftauglichkeitsuntersuchung gewonnenen beziehungsweise aufbereiteten Daten können auch für weitere Anwendungen bei den Gasnetzbetreibern genutzt werden. So können mit keinem oder nur geringem Mehraufwand weitere Anwendungsfälle bedient werden. Nachfolgend sind einige Beispiele aufgeführt, die auch völlig unabhängig von einer Wasserstofftauglichkeitsuntersuchung bearbeitet werden können:

Generierung eines digitalen Zwillings des Netzes

Netzbetreiber können mittels digitaler Zwillinge ihrer Gasnetze Anwendungsfälle wie Wärmeplanung oder Dekarbonisierungsstrategien gut bedienen und relativ einfach Szenarien damit berechnen und abbilden.

Simulationsunterstützung

Durch die Integration von Daten zur Materialkompatibilität und Betriebshistorie können Simulationen und Berechnungen der Gasnetzbetreiber für ihre operative und strategische Netzplanung präziser und einfacher durchgeführt werden.

Vorhersagemodelle für Instandhaltungsmaßnahmen:

Mit Hilfe historischer Wartungsdaten und Betriebsinformationen kann KI ein genaueres Vorhersagemodell erstellen, wann und wo Netzkomponenten voraussichtlich ausgetauscht oder gewartet werden müssen. Diese vorausschauende Wartung hilft, Ausfälle zu vermeiden und den Betrieb des Gasnetzes zu optimieren.

Unternehmens-Chatbot

Nicht zuletzt kann ein mit den Daten trainierter Chatbot dabei helfen, Mitarbeitenden mittels einfacher Interaktion via Texteingabe einen schnellen Zugriff auf diese Daten zu ermöglichen. So können Informationen schnell und gezielt abgerufen und als Bericht oder Statistik dargestellt werden.

Beispiel-Prompt: „Gib mir alle Leitungen aus dem Baujahr 1970-1980, die bereits freigelegt wurden, sortiert nach Material, Straßenabschnitten und dem Freilegungsgrund.“

Fazit

Gasnetzbetreiber sollten sich dringend Gedanken über ihre zukünftige Strategie machen. Setzt euch gerne mit uns in Verbindung, wenn ihr eure Netzdaten aufbereiten und euer Netz auf Wasserstofftauglichkeit untersuchen wollen.

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Autor Christian Blank

Christian Blank verfügt über mehr als 15 Jahre Erfahrung in der Energiewirtschaft mit Schwerpunkt Projektmanagement. Er verantwortet IT-Projekte von der Konzeption bis zur erfolgreichen Umsetzung. Sein Schwerpunkt liegt in der Entwicklung maßgeschneiderter IT-Lösungen, die technische und strategische Anforderungen mit Prozessoptimierungen verbinden. Seine Leidenschaft gilt der kontinuierlichen Verbesserung und der effizienten Lösung komplexer Aufgabenstellungen.

Bild Wolfgang Weber

Autor Wolfgang Weber

Wolfgang Weber hat über 20 Jahre Erfahrung in der Energiewirtschaft, war bei verschiedenen Strom-, Gas- und Wassernetzbetreibern mit technischen und wirtschaftlichen Themen betraut und hat dort Projekte und Organisationseinheiten geleitet. Seine Schwerpunkte sind Asset-Management mit der technisch-wirtschaftlichen Optimierung von Assets, Budgets und Prozessen, sowie Regulierungsmanagement. Er liebt es, sich, andere und Prozesse weiterzuentwickeln, Neues auszuprobieren und hat schon mit agilen Projekten Erfahrungen gesammelt.

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