29. März 2022 von Florian Petermann, Andreas Honert und Stefan Hilmer
Die agile Regressionsfalle
Was ist eine agile Regression?
Manchmal fallen Menschen, Organisationen oder Unternehmen, die den langen Weg einer agilen Transition auf sich genommen haben, zurück in alte Muster. Wir nennen dieses Phänomen „agile Regression“ ؘ– eine Gefahr, die es zu vermeiden gilt.
Der Duden unterscheidet zwei Bedeutungen des Wortes Regression: eine psychologische und eine bildungssprachliche. In der Psychologie beschreibt der Begriff Regression das Zurückgehen oder Zurückfallen auf frühere Stufen der geistigen Entwicklung beziehungsweise des Trieblebens. Im bildungssprachlichen Sinn geht es um einen langsamen Rückgang oder eine rückläufige Tendenz oder Entwicklung.
Als agil wird in diesem Beitrag eine Regression bezeichnet, wenn sie in oder nach einer agilen Transition stattfindet. Dabei verstehen wir unter agiler Transition die Veränderung einer Organisation hin zu mehr Agilität im Sinne des agilen Manifestes.
Zusammengenommen ist eine agile Regression also der Rückfall einer Organisation oder einzelner Personen auf früher gelernte traditionelle Denk- und Arbeitsweisen, die sich vermeintlich für die Person oder die Organisation in der Vergangenheit bewährt haben. Diese Rückfälle sind nicht gewollt, aber die Gefahr ist allgegenwärtig. Die Regressionsfalle kann jede agile Transition treffen. Behält man jedoch mögliche Ursachen einer agilen Regression im Auge und kennt ihre wesentlichen Indikatoren, lässt sie sich oft vermeiden.
Ursachen und Trigger, die eine agile Regression auslösen können
Zu Beginn einer agilen Transition werden zum Testen agiler Vorgehensweisen häufig einzelne agile Teams aufgesetzt und autark von der Hierarchie und den bestehenden Prozessen der Unternehmensorganisation eingesetzt. Es besteht Aufbruch- und Start-up-Mentalität in Teams. Mit dem Voranschreiten der agilen Transition werden diese Teams „zurück“ in die reguläre Organisation integriert, es werden weitere agile Teams aufgesetzt und in vielen Fällen wird auch direkt ein agiles Skalierungsframework wie Scrum of Scrum, Large Scale Scrum (LeSS) oder Nexus eingesetzt. Insbesondere im Finanzsektor ist eine iterative Entwicklung oftmals nur bedingt möglich, da regulatorische Vorgaben erfüllt werden müssen und fachliche Kernprozesse End to End abzubilden sind, um einen Mehrwert für Kundinnen und Kunden und Unternehmen zu stiften. Neben dem Einsatz und der Implementierung eines methodischen Frameworks ist vor allem auch ein Kulturwandel für eine erfolgreiche agile Transition notwendig. Denn nur mit einem agilen Mindset, das unter anderem Innovationen und Schnelligkeit durch Eigenverantwortung forciert, kann flexibel auf sich ändernde Kundenbedürfnisse und Marktsituationen reagiert werden.
Da sich ein agiles Mindset nicht umfassend schulen oder verordnen lässt, muss sich dieses auf allen Ebenen entwickeln können. Dies benötigt nicht nur Zeit, sondern vor allem auch Motivation, Offenheit und Durchhaltevermögen aller Beteiligten. Allerdings gibt es – vor allem zu Beginn einer agilen Transition – sowohl für agile Teams als auch auf Führungsebenen entsprechende Faktoren, die einen Rückfall in gelernte Verhaltensmuster fördern: die agile Regression.
Stress
Agile Teams können durch Einflüsse von außen enormen Belastungen ausgesetzt werden, wenn diese – zum Beispiel durch Stakeholder – mit überzogenen Erwartungen konfrontiert werden. Dies kann zur Folge haben, dass Teams nach außen nicht mehr transparent arbeiten oder beispielsweise umfangreiche Spezifikationen und eine detaillierte Planung einfordern.
Agile Vorgehensweisen stellen für agile Teams häufig eigenverantwortliches Handeln und eine (fachliche) Verantwortungsübernahme als Erfolgsfaktoren in den Mittelpunkt. Insbesondere zu Beginn einer Transition kann dies dazu führen, dass sich agile Teams selbst in Stress versetzen. Gründe dafür sind unter anderem die Übernahme der Verantwortung für die Priorisierung von Anforderungen und die Auswahl technischer Lösungen. Innerhalb agiler Teams können dadurch „klassische“ Projektstrukturen und Sub Teams mit „eigenen“ Verantwortlichkeiten entstehen, die nicht nur den Entwicklungsprozess verlangsamen, sondern auch das gemeinsame Teamgefühl schwächen.
Command-and-control-Strukturen werden durch agile Vorgehensweisen aufgebrochen und fachliche Verantwortung wird sukzessive an die agilen Teams übertragen. Ein gefühlter „Kontrollverlust“ kann insbesondere Führungskräfte oder „teamexterne“ übergreifende Rollen überfordern – etwa in den Bereichen Enterprise Architecture oder Process Ownership. Da in dieser Phase keine direkte Kontrolle mehr besteht, wird versucht über die Möglichkeiten eines agilen Frameworks hinaus (zum Beispiel das Review) Einfluss auf die agilen Teams zu nehmen.
Fehlende Transparenz
Iterative und inkrementelle Vorgehensweisen sind in der heutigen VUCA-Welt, einer Welt voller Volatility, Uncertainty, Complexity und Ambiguity, gute Möglichkeiten, um Kundenbedürfnisse flexibel und schnell erfüllen zu können. Insbesondere sind bei iterativen und inkrementellen Vorgehensweisen eine Vision und eine Übersicht über die übergeordneten Ziele absolut notwendig, um den Zweck nicht aus den Augen zu verlieren. Fehlen klare Visionen und übergeordnete Ziele, dann führt dies leicht zu „Chaos“. Dadurch wird dann schnell der Ruf nach einer detaillierten langfristigen Planung laut.
Transparenz ist auf allen Ebenen notwendig. Arbeiten agile Teams auf der einen Seite nicht transparent, dann besteht das Risiko, dass Schattenstrukturen, wie versteckte Rollen, aus dem Projektmanagement geschaffen werden. Arbeitet auf der anderen Seite die Führungsebene hingegen nicht transparent, dann fällt es den Teams schwer, eigenverantwortlich zu agieren und Verantwortung zu übernehmen. Aus einem iterativen Vorgehen kann sich dadurch wieder schrittweise ein sequenzielles entwickeln.
Berechtigte Regression
Da agile Frameworks lediglich den Rahmen vorgeben können, in dem sich die agilen Teams und Führungskräfte bewegen, muss sich – wie bereits beschrieben – ein agiles Mindset in der Organisation entwickeln können. Der Erfolg einer agilen Transition hängt somit entscheidend davon ab, ob agile Vorgehensweisen für alle Beteiligten, für die Teams, für das zu entwickelnde Produkt und letztendlich auch für die ganze Organisation von Nutzen sind. Sollte dies nicht der Fall sein, werden häufig bestehende Strukturen, Rollen und Prozesse unter neuer Bezeichnung nachgebaut. Hier muss dann kritisch die Frage gestellt werden, ob die agile Transition weitergeführt wird oder ob die bestehende Vorgehensweise nicht doch für die individuelle (Unternehmens-)Situation effizienter ist.
Indikatoren für eine Regression
In den vorhergehenden Abschnitten wurde die Regression im agilen Kontext definiert und es wurden Ursachen und Trigger als potenzielle Startpunkte für die agile Regressionsfalle beschrieben.
Ein Rückfall in gelernte Verhaltensmuster ist oftmals schleichend und nicht offensichtlich. Es gibt aber ein paar Indikatoren, auf die man achten sollte, um eine agile Regression zu vermeiden.
Erste offene Zweifel
Zum Start der agilen Transition wurde vermeintlich alles richtig gemacht: Es wurden agile Teams aufgestellt, Scrum oder Kanban eingeführt, Sprints geplant und ein Minimum Viable Product (MVP) beziehungsweise Inkrement ausgeliefert. Zudem wurde möglicherweise durch die Einführung einer Domänen- und Produktstruktur die Organisation bereits weiterentwickelt. Damit ist in der gesamten Organisation und vor allem bei den Stakeholdern die Erwartung entstanden, dass die Produktentwicklung nun schneller und flexibler erfolgt. Zudem wird unterstellt, dass durch eine entsprechende Kundenorientierung fachlich und qualitativ hochwertigere Produkte geliefert werden.
Erfüllen sich diese Erwartungen in dieser Situation nicht sofort – dies zeigt sich beispielsweise, wenn ein Release oder Roll-out verschoben werden muss –, macht sich, zunächst schleichend und später, offen eine entsprechende Unzufriedenheit breit. In der Geschäftsleitung, auf den verschiedenen Führungsebenen und in agilen Teams wird der Nutzen agiler Vorgehensweisen in Frage gestellt. Die nachfolgenden Zitate können Indikatoren für einen ersten Schritt in die agile Regressionsfalle sein:
- „Das agile Setting ist anders als erwartet langsam.“
- „Die MVPs bringen uns nicht voran.“
- „Diese Sprints dauern zu lange.“
- „Die Projekte werden zu teuer.“
Oftmals gehen solche Äußerungen mit einer generellen Ablehnung der neu eingeführten Denk- und Arbeitsweisen einher.
Abnehmendes Vertrauen der Führungsebene
Ist ein Release oder der Roll-out eines MVPs zu verschieben, dann kann dies schnell dazu führen, dass davon abhängige andere Einheiten der Organisation mit ihren Planungen und Versprechungen ins Hintertreffen geraten. Muss zum Beispiel der Go-live der Antragsstrecke einer Versicherung oder eines Kredits verschoben werden, dann kann dies unter anderem Auswirkungen auf geplante Vertriebswettbewerbe und Marketingkampagnen haben.
Das Vertrauen der Führungsebene in das agile Setting kann dadurch schnell abnehmen. Ein Indikator, bereits in der Regressionsfalle zu stecken, sind nun Krisenworkshops und Task Forces. In diesen wird erwartet, dass die Anforderungen der Stakeholder nun erfüllt werden und die agilen Teams auch Verantwortung übernehmen. Gleichzeitig wird in dieser Phase die Meinung vertreten, dass die Projektergebnisse zu Zeiten des traditionellen Projektvorgehens (Wasserfall) auch erfolgreich waren.
Um wieder „Führung in die Projekte zu bekommen“, besteht für die agile Transition das Risiko, dass die Führungsebenen in althergebrachte Management-Muster zurückfallen, die sich in der Vergangenheit vermeintlich bewährt haben. Es wird nun damit begonnen, ein Controlling aufzusetzen, in dem Kennzahlen der Teams ausgewertet und interpretiert werden. Zum Beispiel wird die Kapazitätsplanung verifiziert oder die Velocity eines agilen Teams geprüft, angezweifelt und im schlimmsten Fall sogar mit der eines anderen agilen Teams verglichen. Zudem wird – unter anderem durch die Einführung von Projektplänen – detaillierter, langfristiger und teamübergreifend geplant.
Das abnehmende Vertrauen der Führung in das agile Setting beziehungsweise in die agilen Teams ist somit als Schritt in die agile Regression besonders wirksam, da konkrete Maßnahmen angeordnet und umgesetzt werden.
Die Umsetzung der agilen Transition wird in Frage gestellt
Oftmals wird das ausgewählte agile Framework beziehungsweise die Art und Weise der Umsetzung der agilen Transition in Frage gestellt. Dies zeigt sich vor allem dadurch, dass eine neue Beratungsfirma beauftragt wird, den agilen Prozess einem Statuscheck zu unterziehen und Vorschläge für einen Neustart der agilen Transition zu entwickeln. Die Verbesserungsvorschläge werden häufig unwissentlich auf Basis eines in der Vergangenheit bewährten Vorgehens gemacht. Dadurch besteht die Wahrscheinlichkeit, dass innerhalb der agilen Frameworks traditionelle Planungs- und Controlling-Strukturen nachgebaut werden. Agile Vorgehensweisen werden dann nicht mehr wie vorgesehen eingesetzt.
Fazit
Ein agiles Mindset benötigt auf allen Ebenen Zeit und das Durchhaltevermögen aller Beteiligten, um sich entwickeln zu können. Allerdings begünstigen Faktoren wie zum Beispiel Stress einen Rückfall in alte, „bewährte“ Verhaltensmuster. Dadurch kann sich das agile Mindset nicht entfalten und die Vorteile agiler Vorgehensweisen können nicht voll ausgeschöpft werden.
Die in diesem Beitrag beschriebenen Indikatoren helfen, eine agile Regression frühzeitig zu erkennen und ihr rechtzeitig gegenzusteuern. Entsprechende Maßnahmen zur Vorbeugung und angemessene Reaktionen werden wir im nächsten Teil unserer Serie „Die agile Regressionsfalle“ vorstellen.