30. Jänner 2023 von Nehir Safak-Turhan
Der Fachkräftemangel in der Digitalindustrie – Status quo und Folgewirkungen
Strukturelle Umbrüche und Basisinnovationen haben die Kraft, langfristige Veränderungen in allen Lebensbereichen auszulösen. Die Digitalisierung hat uns in den letzten Jahren vor Augen geführt, wie schnell und flächendeckend dieser Wandel in Wirtschaft und Gesellschaft erfolgen kann. Dabei ist die Transformation noch lange nicht abgeschlossen: Das Bewährte ist immer noch auf dem Prüfstand und wird durch das Neue fortlaufend abgelöst. Die Disruption ist also noch in vollem Gange und wird durch zusätzliche Herausforderungen wie Klimawandel und Demografie weiter befeuert.
Doch der Wandel an sich ist keine Selbstverständlichkeit. Eine erfolgreiche Transformation erfordert die Fähigkeit zur schnellen Anpassung an dynamische Umweltbedingungen und stellt hohe Ansprüche an die Innovationsfähigkeit. Das gilt sowohl für Unternehmen als auch für die Volkswirtschaft. Entsprechend ist der Aufbau digitaler Kompetenz für Unternehmen inhärent und für die internationale Wettbewerbsfähigkeit von besonderer Bedeutung. Mit Erfindergeist, Risikobereitschaft und entsprechendem (Human-)Kapital sollte es möglich sein, diesen Wandel erfolgreich zu meistern. Eigentlich! Die Realität sieht jedoch anders aus. Das Fehlen der knappsten Zutat stellt ein Hindernis dar: die Knappheit von Fachkräften in der Digitalindustrie.
Status quo – die zentralen Treiber der Transformation
Laut dem Institut der Deutschen Wirtschaft wirken vier wesentliche Veränderungen disruptiv auf das Geschäftsmodell der deutschen Wirtschaft ein und stellen Herausforderungen dar, die es zu lösen gilt (4D): Digitalisierung, Dekarbonisierung, Demografie und Deglobalisierung. Ein Blick auf die Begrifflichkeiten macht die Virulenz des Fachkräftemangels deutlicher.
Digitalisierung
Datengetriebene, digitale Geschäftsmodelle werden für die Wirtschaft immer wichtiger. Ihre Realisierung erfordert hohe digitale Kompetenz und setzt Fachkenntnisse voraus, um marktfähige und nutzenorientierte Lösungen anzubieten. Gerade für kleine und mittelständische Unternehmen – das sind circa 99,4 % der Unternehmen in Deutschland –, stellt das Fehlen geeigneter Fachkräfte ein großes Hindernis dar. Laut den Prognosen des Instituts der deutschen Wirtschaft erwarten 40 % der deutschen Unternehmen in den kommenden fünf Jahren einen steigenden Bedarf an IT-Expertinnen und -Experten sowie 54 % an IT-Fachkräften. Unter innovierenden Unternehmen gehen sogar 52 % von einem steigenden Bedarf an IT-Expertise und 66 % von IT-Fachkräften aus.
Dekarbonisierung
Der Klimawandel wird in den nächsten Jahrzehnten die Herkulesaufgabe unseres Zeitgeschehens sein und ein Umdenken in Wirtschaft und Gesellschaft erzwingen. Digitale Technologien und Innovationen sind zentrale Treiber für die Verbesserung der Energie- und Ressourceneffizienz. Für die Entwicklung klimafreundlicher Technologien und Produkte sind IT-Fachleute unentbehrlich. Prognosen zeigen, dass sich der Bedarf an Expertise zur Entwicklung klimafreundlicher Technologien in den kommenden Jahren deutlich erhöhen wird. So erwarten beispielsweise 19 % der Unternehmen in den nächsten fünf Jahren einen steigenden Bedarf an (Umwelt-)Ingenieurinnen und Ingenieuren. Bei innovierenden Unternehmen beträgt der entsprechende Anteil bei IT-Fachleuten 38 % und bei (Umwelt-)Ingenieurinnen und Ingenieuren 24 %. Auch sonstige MINT-Expertise wird händeringend gebraucht.
Demografie
Laut dem aktuellen MINT-Herbstreport 2022 scheiden jährlich 64.700 MINT-Akademikerinnen und Akademiker aus Altersgründen aus dem Arbeitsmarkt aus. Die Prognosen des IW für die nächsten fünf Jahre zeigen, dass der jährliche demografische Ersatzbedarf um 7.400 Personen auf insgesamt 72.100 steigen wird. Auch mit neuen Absolventinnen und Absolventen wird der Bedarf nicht vollständig absorbiert: Im MINT-Bereich werden derzeit etwa zwei Drittel der Absolventinnen und Absolventen allein dafür benötigt, den Ersatzbedarf zu decken. Sie stehen damit nicht für ein weiteres Wachstum der Erwerbstätigkeit zur Verfügung. Bei den MINT-Facharbeitenden beträgt der aktuelle demografische Ersatzbedarf rund 274.000 und wird in fünf Jahren um rund 17.900 auf 291.900 steigen. Die Zahlen implizieren, dass wir mit den aktuellen Absolvierendenzahlen deutlich unter dem demografischen Ersatzbedarf liegen. Insgesamt nimmt der jährliche demografische Ersatzbedarf an MINT-Fachkräften damit um 25.300 zu. Diese Entwicklung macht deutlich, dass Wachstum mit den gegebenen knappen Ressourcen in den jeweiligen digitalen Schlüsselindustrien nur beschränkt möglich sein wird.
Deglobalisierung
Auswirkungen der Pandemie, gestörte Lieferketten, Ukraine-Krieg und steigende Energiepreise gehen auf globaler Ebene mit hohen Unsicherheiten einher. Eine mögliche Gegenmaßnahme wird in der Verbesserung der Resilienz durch Investitionen in zukunftsfähige Forschungs- und Entwicklungsprojekte gesehen. Damit stehen viele Unternehmen unter hohem Druck, sich durch Innovationen und neue Geschäftsmodelle an veränderte Rahmenbedingungen anzupassen und ihre Widerstandsfähigkeit gegenüber exogenen Schocks zu stärken. Bereits im Jahr 2019 hatten rund 77 % der Erwerbstätigen im Tätigkeitsfeld Forschung und Entwicklung (FuE) eine MINT-Qualifikation. Sollen die FuE-Ausgaben gemessen am BIP auf 3,5 % steigen, nimmt allein dadurch der MINT-Bedarf in Deutschland um über 50.000 Personen zu.
Deutschland fehlen aktuell rund 326.100 Arbeitskräfte im MINT-Bereich
Ein Blick auf die aktuellen Zahlen auf dem Arbeitsmarkt macht den akuten Bedarf sichtbar: Die MINT-Lücke erreichte im Oktober 2022 mit insgesamt rund 326.100 fehlenden Arbeitskräften einen der höchsten Werte für den Monat Oktober. Für Unternehmen impliziert diese Lücke ein elementares Risiko. Denn der Mangel an geeigneten Fachkräften wirft Unternehmen zurück und entschleunigt nicht nur die Entstehung notwendiger Innovationen und Forschungsaktivitäten, sondern verhindert auch den reibungslosen Ablauf von laufenden Wertschöpfungsprozessen. Insbesondere in der IT-Branche und Berufen der Energie- und Elektrotechnik war diese Knappheit zuletzt stark gestiegen. Eine brisante Entwicklung, die ohne Gegenmaßnahmen gravierende Folgen haben kann.
Die Fakten auf dem Arbeitsmarkt sind klare Indikatoren, dass es sich beim Mangel an Fachkräften nicht nur um reine Unkenrufe handelt. Ein Blick auf die Entwicklungen macht deutlich, dass die langfristige Lücke starke Auswirkungen auf den Unternehmenserfolg und die internationale Wettbewerbsfähigkeit haben wird, wenn keine Gegenmaßnahmen ergriffen werden. Viele Unternehmen sprechen bereits heute vom „größten Geschäftsrisiko der Zukunft“.
Was sind mögliche Folgen?
Die aktuellen Zahlen sowie die Prognosen senden klare Signale, dass sich ohne ein konkretes Gegensteuern die zunehmende Knappheit weiter verschärfen wird. Das Fehlen von Fachkräften bleibt aber nicht folgenlos – weder für Unternehmen noch für Volkswirtschaften. Mit steigenden wirtschaftlichen Auswirkungen werden die negativen Folgen des Fachkräftemangels sichtbarer werden, die sich wie folgt manifestieren können:
- Verlust der Wettbewerbsfähigkeit und Innovationskraft in digitalen Schlüsselindustrien
- Steigende Arbeitskosten und Mehrbelastung im laufenden Betrieb
- Wachstums- und Ertragseinbußen durch eingeschränktes Angebot oder Ablehnung von Aufträgen
- Senkung der Produktivität und Störungen der Wertschöpfung
- Langfristige Wohlfahrtsverluste in Wirtschaft und Gesellschaft
- Verzögerte beziehungsweise mangelnde Selbstwirksamkeit gegenüber zentralen Herausforderungen des Strukturwandels (Klima, Digitalisierung)
- War for Talents
- Rückgang der internationalen Wettbewerbsfähigkeit
Fazit
Die Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge in der Wirtschaft sind selten monokausal. Das gilt auch für den Arbeitsmarkt. Der steigende Bedarf an digitalen Fachkräften wird durch die zunehmende Knappheit qualifizierter Expertinnen und Experten sowie den demografischen Wandel verschärft. Gleichzeitig erhöhen globale Herausforderungen wie Klimaschutz (Dekarbonisierung) und steigende Energiekosten die Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt für MINT-Fachkräfte. Nur mit entsprechend qualifizierten Mitarbeitenden sind zusätzliche Innovationen möglich. Da sie jedoch limitiert zur Verfügung stehen und die Nachfrage nicht befriedigt wird, entstehen Engpässe, die die Knappheit auf dem Arbeitsmarkt weiter verschärfen.
In Zukunft werden wir beobachten, dass weitreichende Maßnahmen ergriffen werden müssen, um die negativen Folgewirkungen dieser Entwicklung einzudämmen. Dabei werden bereits heute schon konkrete Vorschläge wie bspw. gezielte Zuwanderung, Erhöhung der Attraktivität der MINT-Berufe für Frauen oder die Verbesserung der Bildungschancen für Kinder und Jugendliche als mögliche Lösungsansätze diskutiert. Ob es dabei nur bei Lippenbekenntnissen bleibt, werden wir gemeinsam beobachten.