29. November 2022 von Joy Borsutzki
#9 Agile Softwareentwicklung – Unternehmenskultur frisst Agilität
Scrum, Kanban, SAFe oder LeSS: Nicht nur die Wahl der Methode, mit der Teams sich auf die Reise in ein agiles Arbeitsumfeld begeben, ist ein entscheidender Erfolgsfaktor. Hinter vielen Erfolgs- oder Misserfolgsstorys von agilen Transformationen steht eine geheimnisvolle Macht im Unternehmen, die immer wieder angesprochen, aber in ihrer Wirkung gerne unterschätzt wird: die Unternehmenskultur.
Einfach agil machen reicht nicht
Für manche Mitarbeitenden ist es die lang erwartete Veränderung, andere finden es einfach nur nervig, wenn eine Abteilung oder ein Projektteam die Reise in ein agiles Arbeitsmodell beginnt. In Workshops wird der Value Stream des Teams analysiert, werden Arbeitsweisen und Anforderungen von außen geprüft und wird eine Methodik ausgewählt. Man einigt sich noch schnell aufs „du“, weil es dem Arbeitsumfeld einen modernen Touch gibt – und schon geht’s los: Man orientiert sich an Sprints, hält Retrospektiven, pflegt Backlogs und steht sehr viel in Dailys rum. Aber irgendwie hapert es immer noch. Entscheidungen werden nicht schnell genug getroffen, Mitarbeitende haben nicht den Eindruck, produktiver zu sein, und die neugewonnene Transparenz wird zur Last. Hastig wird im Kontext reagiert: Die Kolleginnen und Kollegen brauchen wohl einen Mindset-Workshop. Das „agile Enablement“ der Beteiligten fehlt anscheinend.
Versteht mich nicht falsch: Ein spannender Workshop, um zu entdecken, was agile Methoden leisten können, und gemeinsam erste Erfahrungen in einem neuen Framework spielerisch auszuprobieren, ist großartig und eine gute Idee. Häufig wirkt er aber nur auf der Symptomebene und verändert das Arbeitsumfeld nicht.
Die Welt hinter den Meetings
Agilen Arbeitsmodellen liegt die feste Überzeugung zugrunde , dass Menschen gerne Großartiges leisten wollen und der Arbeitsplatz ein super Ort ist, um die Selbstwirksamkeit auszuleben. Was muss sich also umstellen, damit das Team sein volles Potenzial entfalten kann? Der Mensch oder das Umfeld?
Wenn ich als agiler Coach in ein für mich neues Team komme, gucke ich mir nicht nur die klassischen agilen Artefakte, wie zum Beispiel das Burn-down-Chart oder die WIP-Level, an, sondern versuche auch zu verstehen, in welchem Umfeld das Team arbeitet.
Häufig ist es die Unternehmenskultur, die das Team beeinflusst und von außen die agilen Methoden unterstützt – oder direkt mit ihnen konkurriert. In der Regel werden die offiziellen (oder inoffiziellen) Werte des Unternehmens über Artefakte sichtbar.
- Wer sind die Helden im Unternehmenskontext? Ist es der bedachte Projektmanager, der das Projekt ohne große Reibungsverluste durchgeführt und hohe Kompromissfähigkeit an den Tag gelegt hat? Oder eher die durchsetzungsstarke Kollegin, die ihre Vorstellungen gegen viele andere Meinungen verteidigt und implementiert hat?
- Was sagt das Bürogebäude über die Zusammenarbeit im Unternehmen aus? Gibt es viele Einzelbüros, in denen die Mitarbeitenden ungestört arbeiten sollen, oder gibt es viele leicht und schnell reservierbare Meetingräume mit viel verfügbarem Material, das man sofort nutzen kann?
- Ist der Farbcode des Unternehmens spritzig und individuell oder wird Wert auf ein hohes Maß auf Uniformität gelegt?
Zusätzlich spielen meist auch noch andere Kulturaspekte in der Zusammenarbeit von agilen Teams eine entscheidende Rolle, zum Beispiel:
- die Professionskultur, die sich in einzelnen Berufs- und Ausbildungswegen herausbildet – und starken Einfluss zum Beispiel auf Faktoren wie Risikofreude oder die Akzeptanz von Bauchgefühl hat
- die Landes-/Regionalkultur, die Mitarbeitende schon lange vor dem Eintritt ins Berufsleben formt und gestaltet
- Familienkulturen und Bräuche, die selbst regional sehr unterschiedlich ausfallen können und das Selbstbild von Mitarbeitenden schon früh prägen
Als Coach kann man diese Aspekte immer nur von außen betrachten und mit den betroffenen Mitarbeitenden in Kontakt gehen, um zu verstehen und zu bewerten, wie sich eine kulturelle Ausprägung auf die Zusammenarbeit auswirkt. Und darin liegt auch die Herausforderung dieses Berufs.
Sind die Teammitglieder sehr detailorientiert unterwegs und versuchen jede Arbeit mit hoher Genauigkeit und Gewissenhaftigkeit zu erledigen? Oder geht es eher um Geschwindigkeit, ist die Funktionalität im Vordergrund? Wird gerne und viel dokumentiert oder verwendet man die Ressourcen lieber, um schneller an den Kundenbedürfnissen zu sein?
Vom Agilmachen zum Agilsein
Agilität funktioniert nur in einem Umfeld, in dem die Scrum-Werte (Fokus, Offenheit, Commitment, Respekt, Mut – und zusätzlich auch Einfachheit) gelebt und gefördert werden. Unabhängig von Scrum oder Kanban. Aus meiner Sicht ist das die Basis für agiles Arbeiten. Was kann ich also machen, um nicht nur das Mindset der Teammitglieder, sondern auch die entsprechende Arbeitskultur passend zu formen?
Ein Werkzeugkasten aus dem Change Management ist hier für den Coach von entscheidender Bedeutung.
Dabei ist nicht nur das Team Ziel der Veränderung, sondern ganz klar auch das angrenzende Firmenumfeld. Der Verlauf von agilen Transformationen ist entscheidend von der Transformation der Unternehmenskultur des beteiligten Unternehmens abhängig und damit von denen, die die Transformation begleiten.
Am Ende ist der Erfolg der Kulturtransformation hauptsächlich durch eine Frage zu beantworten: Gelingt es dem Agile Coach, neue Werte und Kulturartefakte im Unternehmen zu platzieren?
Wenn er es schafft, das Umfeld, in dem das Team unterwegs ist, den Aufgaben entsprechend zu formen, die Stärken der bestehenden Unternehmenskultur auszubauen und durch neue Facetten zu ergänzen, dann steht einem erfolgreichen Start in die agile Welt nichts mehr im Wege. Ansonsten isst die Unternehmenskultur die Anfänge von neuen Arbeitsweisen und Kommunikationsprozessen zum Frühstück.
Wie läuft das bei euch? Seid ihr noch im „doing agile“ – oder schon auf dem Weg zum „being agile“?
Weitere spannende Themen aus der adesso-Welt findet ihr in unseren bisher erschienenen Blog-Beiträgen.
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